LOTTEs neue Single über sexualisierte Gewalt
- von Daniel
- am
Die größte Stärke von Musik ist, Gefühle auf eine Weise ausdrücken zu können, wo uns Sprache im Stich lässt; Geschichten so kräftig nachzeichnen zu können, wo sonst jede Stiftmine abbrechen würde; Erinnerungen so realistisch ins Gedächtnis zu katapultieren, wo jegliche künstliche Intelligenz einen 404 Fehler anzeigen würde. Es ist wie gesagt ihre größte Stärke – aber auch ihre schärfste Waffe. LOTTEs neue Single „SO WIE ICH“ ist der beste Beweis dafür. „SO WIE ICH“, erzählt die Geschichte eines Übergriffs und das so treffend und so schmerzhaft, wie auch befreiend. Das liegt vorwiegend daran, dass LOTTE Raum gibt für vermeintliche Widersprüche. Grenzenlose Wut trifft auf Verletzlichkeit, Angst steht unbändigem Mut gegenüber, Kaputtes fügt sich zu etwas Neuem, Wunderschönen zusammen.
Alles davon ist echt und hängt miteinander zusammen. Das gelingt LOTTE vordergründig durch die Lyrics. Sie schafft einen sensiblen, respektvollen Einblick in den gebrochenen Spiegel der Seele einer Traumatisierten und hält diesen gleichzeitig absolut kompromisslos dem/der Täter*in vor. Auch wenn ihr Songwriting immer schon autobiografisch geprägt war, legt „SO WIE ICH“ ihr Seelenleben so intim offen, wie sie es sich bisher noch nie getraut hat. „Ich bin stolz auf meine bisherigen Alben, aber da war auch viel Distanz dabei und die Angst, zu viel preiszugeben“, sagt sie dazu. Mit fast 27 legt sie diese Angst ab, wandelt sie um in einen Angriff nach vorne, einen Befreiungsschlag. LOTTE richtet sich direkt an den Täter, wenn sie singt: „Was hat das mit dir gemacht? Lagst du auch noch wach? Hast du dich gefragt: Was hast du falsch gemacht? So wie ich, so wie ich, so wie ich.“ LOTTEs Welt ist seit dieser einen Nacht in ein „Vorher“ und „Nachher“ unterteilt. Früher zog sie unbekümmert um die Häuser, heute schließt sie Tür zweimal ab. Früher die Königin des eigenen Kiez, jetzt ist da das Gefühl, die eigene Straße, das eigene Zuhause gehöre jemand anderem. Es sind diese kleinen Details, die dem/der Hörer*in vor Augen führen, wie allumfassend ein Erlebnis wie ein sexueller Übergriff die Welt des Opfers auf den Kopf stellt. Man merkt, dass es LOTTE wichtig war, in „SO WIE ICH“ keine Klischees von Opferrollen zu reproduzieren. Wir wollen kein Mitleid. Wir wollen Feingefühl. Wir wollen kein tröstendes Tätscheln der Schulter, wir wollen ein offenes Ohr, das unseren Geschichten zuhört. Sie ernst nimmt. Wir wollen keine Fragen mehr hören wie „Ja, aber was hattest du denn an?“, oder „Warum trinkst du auch so viel?“. LOTTEs Standpunkt ist klar: Sexualisierte Gewalt muss als gesamtgesellschaftliches Problem benannt werden. In den offenen Gesprächen, die sie im Zuge ihres Übergriffs mit ihren Freund*innen führte, wurde ihr selber erst klar, welche Präsenz sexualisierte Gewalt im Leben vieler Menschen hat – auch in ihrem eigenen Umfeld. Sie wird nicht nur in Parkhäusern oder nächtlichen Parks von anonymen Fremden ausgeübt. Sie findet auch im Ehebett statt, am Arbeitsplatz, im Klassenzimmer und im Freundeskreis. Innerhalb der eigenen Familie. Vor allem sogar dort. Diese Perspektive muss gesehen werden, um greifbare Veränderung zu erwirken – für alle. Und um Heilung möglich zu machen. Mit „SO WIE ICH“ leistet LOTTE ihren Beitrag, das Unsichtbare sichtbarer zu machen.
Wer den Song hört, merkt schnell, dass sich LOTTE nicht nur bei den Lyrics sehr viele Gedanken gemacht hat, sondern auch dabei, den passenden Sound für die komplizierte Gefühlswelt zu finden, die sie in „SO WIE ICH“ zeigen wollte. Noch nie hat sie so lang an einem Song gesessen, insgesamt war es ein Jahr. Währenddessen entstanden sieben Versionen des Songs. Auf manchen wurde geschrien, auf anderen waren die Beats laut, wütend, theatralisch. Bis LOTTE merkte, dass es das gar nicht braucht, um dem Impact eines sexuellen Übergriffs gerecht zu werden. Nur weil etwas nicht laut und wild gestikulierend daherkommt, heißt das noch lange nicht, dass sich unter der Oberfläche nicht riesige Wellen auftürmen würden.
Und so wurde „SO WIE ICH“ zart, fragil und leise und zieht gerade daraus seine heftige Wirkung. Diese Wirkung wird mit dem Musikvideo zusätzlich unterstrichen. Wie schon beim Sound reduziert LOTTE auch die Bildsprache auf das Nötigste. Sie zeigt sich verletzlich, nahbar, im metaphorischem wie bildlichen Sinne, so trägt sie im Video Outfits, die viel Haut preisgeben. „Verletzlichkeit zuzugeben und ein Video zu drehen, in dem ich Haut zeige und mir Menschen so nahe kommen, dass es mir schon fast wieder Angst macht, das war ein wichtiger Schritt”, sagt LOTTE heute. Da wären wir wieder beim Victimblaming und Fragen wie „Was hattest du an?“ Auch LOTTE wurde damals gefragt, wie aufreizend ihr Outfit in jener Nacht gewesen sei.
Dass solche Fragen komplett in die falsche Richtung gehen, zeigt sie mit dem Video auf einer weiteren Ebene und beweist: Fragilität ist ihre größte Stärke und größte Herausforderung, aber auch ein Teil des Ausblicks auf die Zukunft, der sie antreibt. Mit „SO WIE ICH“ hat LOTTE die Oberfläche weit hinter sich gelassen und ist in die trüberen, düsteren Gefilde der Popmusik und von sich selbst hinabgetaucht. Vom fröhlichen Mädchen mit Gitarre ist sie zu einer 26-jährigen Frau mit einer vielschichtigen, komplizierten und deswegen umso interessanteren Gefühlswelt geworden. „SO WIE ICH“ ist gerade erst der (schmerzvolle) Anfang einer neuen Ära, einer neuen LOTTE, die keine Angst hat, diesen Struggle auch zu zeigen.
Der Song ist ein Trostspender und eine Kampfhymne, den LOTTE in erster Linie für sich selbst geschrieben hat, um stärker aus dem Erlebten hervorzugehen. Er ist aber außerdem Stimme, für alle die, die nicht gehört werden und ein Weckruf an alle anderen, die Augen zu öffnen, wenn Unrecht passiert und sich des vollen Spektrums bewusst zu werden, was dieses Unrecht nach sich zieht. In all seinen Farben neben Schwarz und Weiß und in all seinen Bezeichnungen zwischen „Betroffene*r und Täter*in“, sodass wir am Ende lernen: Wir sind nicht allein. Wir sind nicht schuld. Und da ist Raum für Veränderung – positive Veränderung. Und wir können alle ein Teil davon sein!
Foto: Linda Ambrosius